Kapitel 4: Weitere Offenbarungen
Juni 2003 – Loch Shiel, Schottland
Vier Wochen später befanden sie sich wieder an Duncans Lieblingsort und veranstalten dort ein kleines Picknick. Die Sonne, die jetzt Mitte des Monates Juni immer mehr an Kraft gewann, meinte es am heutigen Nachmittag wirklich gut. Duncan und Rachel hatten es sich auf einer Decke gemütlich gemacht und genossen sowohl das gute Wetter als auch das vorbereitete Essen, welches aus schottischer Hausmannskost bestand und neben Potatoscones auch Rührei und Schinken, sowie Oatcakes beinhaltete, die von Rachel liebevoll mit Frischkäse, diversem Gemüse und anderen Früchten, wie Erdbeeren und Ananas belegt worden waren. Außerdem hatte sie auch noch einen Krug mit frisch gepresstem Orangensaft in den Korb getan, den beide jetzt aus Gläsern, die sie ebenfalls in den Korb hineingetan hatte, tranken.
Duncan hatte es nach langem Hin und Her geschafft, Rachel davon zu überzeugen, dass ‚Lenui’ mal für einen Nachmittag zu schließen. Gemeinsam hatten sie beschlossen, die Gunst der Stunde, sprich, das seit einigen Tagen anhaltende früh sommerliche Wetter zu nutzen, und sich eine kleine Auszeit von der Arbeit in der Gastwirtschaft zu nehmen.
Es herrschte fast absolute Stille. Lediglich das surrende Geräusch eines auf dem Loch Shiel fahrenden Motorbootes war zu hören.
Jeder der Beiden hing seinen Gedanken nach. Während Rachel sich fragte, wie es jetzt weitergehen würde, nachdem Duncan in der Nähe von Cul Dorlinn ein Grundstück gekauft und eine Baufirma mit der Umsetzung seiner eigens erstellten Baupläne beauftragt hatte, schlugen dessen Gedanken eine ganz andere Richtung ein. Er fragte sich in diesem Moment gerade, warum eine Frau wie Rachel eigentlich nie geheiratet hatte.
******
„Rachel“, sagte er. „könnte ich dir wohl eine Frage stellen. Du musst aber nicht antworten, wenn du nicht möchtest. Ich werde es respektieren, falls du dich dazu entschließen solltest, mir keine Antwort zu geben.“
„Was möchtest du wissen, Duncan?“
„Warum hast du eigentlich nie geheiratet und eine Familie gegründet?“ fragte er.
Nach einem Moment der Überraschung antwortete Rachel ihm.
„Weißt du, es ist nicht so, dass ich es nicht gewollt hätte. Aber irgendwie hat es sich nicht ergeben. Ich war die älteste von drei Geschwistern. Meine beiden Schwestern Sandra und Glenna sind einige Jahre jünger als ich. Als die Familie im Jahr 1977 aufgrund der diplomatischen Tätigkeit meines Vaters nach Washington umziehen musste, war ich nicht einmal den Kinderschuhen entwachsen. Ich war damals gerade zwölf, meine beiden Schwestern Sandra und Glenna acht bzw. fünf Jahre alt. Als Älteste von uns dreien musste ich schon immer eine Auge auf die beiden jüngeren Geschwister haben. Auch deshalb, weil die Tätigkeit meines Vaters als Diplomat haufenweise Verpflichtungen mit sich brachte. Meine Mutter hat ihn oft begleitet, so dass ich gewissen Pflichte übernehmen musste. Wir hätten uns ohne weiteres ein Kindermädchen leisten können, doch dies wollte Mutter nicht. Und im Nachhinein muss ich ihr Recht geben. Es war gut, dass ich mich von Zeit zu Zeit um die beiden kümmern musste. So habe ich schon recht früh gelernt Verantwortung zu übernehmen.“
Rachel unterbrach ihre Erzählung für einen kurzen Moment, um etwas zu trinken und fuhr dann fort.
„Ich bin in Washington in die ‚Friends School’ gegangen und habe später die ‚Princeton University’ besucht. Dort habe ich meinen Abschluss in Betriebswirtschaft gemacht. Nach dem Tod meines Vaters im Jahr 1988 war ich gezwungen nach Glenfinnan zurückzukehren, und mich um das ‚Lenui’ zu kümmern. Es war ja niemand anders da, der den Inn hätte weiterführen können. Männliche Nachkommen gab es nicht. Und da Sandra und Glenna viel zu jung waren und zudem auch ganz andere Interessen hatten, war ich diejenige, die in den sauren Apfel beißen musste. Ich habe mein ganzes Leben umgekrempelt und bin wieder nach Schottland zurückgekehrt. Manchmal wünsche ich mir schon, dass mein Leben ein wenig anders verlaufen wäre. Aber es ist nun mal nicht zu ändern. Ich habe mich damals eigentlich sehr schnell mit der ungewohnten Situation arrangiert. Und wie du zugeben musst, habe ich meine Sache doch ganz anständig gemacht. Oder siehst du das anders?“
Auf keine Fall.“ war Duncans Erwiderung auf ihre Frage. „Zudem man die Tatsache berücksichtigen sollte, dass du auch noch im Gemeinderat von Glenfinnan tätig bist. Du hast wirklich hervorragende Arbeit geleistet und tust das immer noch. Es war für dich gewiss nicht ganz einfach, als junge Frau mit einer so großen Verantwortung fertig zu werden. Du hast das wirklich gut gemeistert. Aber wieso habt ihr euch damals nicht entschlossen, das ‚Lenui’ zu verkaufen?“
„Du musst wissen, Duncan, dass sich das Gasthaus schon seit über 100 Jahren in Familienbesitz befindet. Es dann einfach weg zu geben, kam natürlich nicht in Frage. Mein Vater hatte es seit dem Jahr 1985 geleitet. Dies war im Übrigen der Zeitpunkt, als er seine Arbeit als Diplomat an den Nagel hängte. In den Jahren davor wurde es von meinem Onkel Callum geführt. Allerdings war dieser zum Zeitpunkt von Vaters Tod auch nicht mehr der Jüngste, und somit änderte sich alles für mich. Ich musste mein Leben in den USA aufgeben, denn meine Mutter hätte es nie geschafft, sich um eine Einrichtung dieser Größenordnung zu kümmern. Sie ist nach Dads Tod in die USA zurückgekehrt und in die Eigentumswohnung in Washington D.C. gezogen, die während unserer Abwesenheit vermietet worden war. Meine beiden Schwestern befanden sich zu dieser Zeit noch auf Privatschulen, welche die Familie aus den Mieteinnahmen der Wohnung und aus Rücklagen finanzierte, die mein Vater während seiner Tätigkeit als Diplomat angespart hatte. Aus diesen wurde damals auch ein Teil meines Studiums bezahlt. Den anderen Teil habe ich mir durch Jobs, die ich neben des Studiums noch ausübte, finanziert. Mutter hat im Jahr 1991 wieder geheiratet und ist mit ihrem Mann nach Oregon gezogen. Sandra und Glenna sind inzwischen verheiratet und haben jeweils zwei Kinder. Man hört sich zu den Geburtstagen am Telefon, und das war es dann auch. Ich habe nie die Zeit gefunden die Beiden zu besuchen. Sandra wohnt mit ihrer Familie in Boston und Glenna in Denver. Wie du siehst, hat sich unsere Familie in alle Winde zerstreut. Nur ich bin hier zurück geblieben.“
„Hast du es jemals bereut nach Glenfinnan zurückgekehrt zu sein und den Inn nicht verkauft zu haben?“
„Bereut? Teils , teils.“ antworte Rachel auf seine Frage.
„Ab und an wünschte ich tatsächlich, dass mein Leben in anderen Bahnen verlaufen wäre. Es war ja nicht so, dass ich mir keine Familie gewünscht hätte, aber irgendwie hat es sich nie richtig ergeben. Es gab hier und da Bekanntschaften mit Männern, vor allem während meiner Zeit in den USA. Aber von keinem hätte ich behaupten können, mit ihm ein Familie gründen zu wollen. Und nun ist es für mich wahrscheinlich zu spät, schließlich werde ich im August 38 Jahre alt.“ Der Anflug eines leicht ironischen Lächelns war auf Rachels Gesicht zu erkennen.
„Du siehst immer noch so aus, wie an dem Tag vor knapp acht Jahren, als wir uns das erste Mal getroffen haben. Keinen Tag älter.“ sagte Duncan.
„Es tut mir leid, Rachel. wenn ich dich mit meiner Fragerei in Verlegenheit gebracht haben sollte.“ Er nahm Rachel in seine Arme und gab ihr einen zärtlichen Kuss auf den Mund. Rachel schmiegte sich daraufhin enger an ihn und antwortete: „Es ist schon in Ordnung, Duncan. Ich habe mir dieses Leben ja selbst ausgesucht, also sollte ich mich nicht weiter beklagen. Ich bin gesund, habe ein regelmäßiges Auskommen und lerne durch meine Arbeit im Inn immer wieder nette Leute kennen. Das hierbei womöglich andere Sachen – wie zum Beispiel der Wunsch nach einer Familie - auf der Strecke bleiben würden, habe ich von Anfang gewusst. Möglicherweise war es mir ja vorbestimmt, genau diesen Weg zu beschreiten, den ich jetzt gehe. So etwas nennt man wohl Schicksal.“
„Über dieses Thema brauchst du mir nichts weiter zu erzählen. Ich kenne es zur Genüge. Auch ich habe mir schon oftmals gewünscht, dass ich ein anderes Leben hätte führen können, als dass eines Unsterblichen, der dazu gezwungen ist, gegen seinesgleichen zu kämpfen. Es ist wirklich nicht einfach mit ansehen zu müssen, wie im Laufe der Zeit Menschen, die man liebt und die einem etwas bedeuten - seien sie nun unter den Sterblichen oder auch den Unsterblichen zu finden - entweder sterben, weil sie alt werden, oder wie im Fall der Unsterblichen, dem Schwert eines stärkeren Gegners zum Opfer fallen. Auch nach Jahrhunderten ist es noch schwer. Ich glaube man lernt niemals damit umzugehen – nicht nach 400 Jahren und auch nicht nach 1000 Jahren oder mehr. Der Verlust ist immer wieder gleich schlimm. Von Zeit zu Zeit frage ich mich ernsthaft, wie es Adam geschafft, die unzähligen Jahrtausende zu überstehen, ohne dem Wahnsinn zu verfallen. Ich weiß ehrlich gesagt nicht, ob ich nach einer so langen Zeit noch die Kraft und den Mut aufbringen könnte, mich den immer neuen Anforderungen zu stellen, die das Leben uns abverlangt.
******
Rachel, die bei der Erwähnung des Namens Adam hellhörig geworden war, zog sich aus Duncans Armen zurück und drehte sich so, dass sie ihn ansehen konnte.
„Du meinst doch jetzt nicht etwa deinen Freund Adam Pierson? Er ist einer von euch?“ fragte sie ungläubig.
„Doch. Genau ihn meine ich. Er gehört zu uns. Und nicht nur das. Er ist der Älteste von uns Unsterblichen. Adam oder auch Methos, wie er bei guten Freunden bekannt ist, hat mehr als 5000 Jahre auf dem Buckel.“
„Sehr erstaunlich und eigentlich nicht glaubhaft. Aber bei euch Unsterblichen darf man sich über gar nichts wundern.“ meinte sie und lächelte Duncan verschmitzt an.
„Es mag unglaublich klingen und dennoch ist es wahr.“
So wie du jetzt schaust, muss auch ich auch ausgesehen haben, als ich Methos im Jahr 1994 kennen lernte. Der älteste Mensch der Welt, der nicht einmal genau weiß, wann er geboren wurde. Er hat gesehen wie sich Kulturen, Länder und Völker entwickelten, um dann irgendwann als Schatten in der Dämmerung der Zeit zu verschwinden. Er hat Dinge erlebt und gesehen, von denen heute kein Mensch mehr weiß, und trotz allem hat er es immer wieder geschafft sich anzupassen. Er hat überlebt, immer und immer wieder. Dafür bewundere ich ihn. Und auch dafür, dass er es geschafft hat, nach dieser langen Zeitspanne immer noch Mensch zu bleiben.
So wie bei den meisten von uns gibt es auch in seiner Vergangenheit dunkle Punkte. Ich habe ihm lange Zeit seine Aktivitäten während der Bronzezeit übel genommen und konnte zunächst nicht verzeihen. Fast wäre aufgrund meiner eigenen Sturheit und diesbezüglichen Intoleranz unsere Freundschaft daran zerbrochen. Letztendlich habe ich es dennoch zu akzeptieren gelernt, auch deshalb, weil selbst ich von mir nicht behaupten kann, eine blütenreine Weste zu haben. Inzwischen haben wir beide wieder zu der lockeren Art zurückgefunden, die unsere Freundschaft von Anfang so ausgezeichnet und zu etwas besonderem gemacht hatte.“
Duncan lächelte.
„Nach den Geschehnissen in Bordeaux hätte ich wirklich nicht geglaubt, dass die Freundschaft zwischen Methos und mir noch eine Chance hat. Aber uns ist es gelungen diese zu erhalten. Sogar mehr noch. Heute zeichnet sie sich durch eine Tiefe aus, die selbst mich immer wieder aufs Neue erstaunt.“
„Was willst du mir damit zu verstehen geben, Duncan? Welches Vergehens hast du dich schuldig gemacht? Ich kann ehrlich gesagt nicht glauben, dass du etwas Unrechtes getan haben solltest. Du bist der geradlinigste Mensch, den ich jemals kennen gelernt habe.“
„Dein Vertrauen in mich ehrt dich, Rachel. Dennoch habe auch ich unschuldige Menschen auf dem Gewissen, Personen, die rein gar nichts mit dem ‚Spiel’ der Unsterblichen zu tun hatten.“
Rachel blickte ihn erstaunt an.
„Culloden.“ hauchte Mac mehr, denn er es sagte.
„Diese Zeit hat größere Wunden bei mir hinterlassen, als du dir vorstellen kannst. Nach der Schlacht im Culloden Muir, die Schottlands Schicksal endgültig besiegelte, habe ich einen unbändigen Hass auf alles Englische entwickelt. Mochte ich die Engländer vorher nicht, so hasste ich sie jetzt aus tiefstem Herzen. Wie ein Berserker ritt ich durch das Land. Wild tobend metzelte ich alles nieder, was sich mir an Engländern in den Weg stellte. Dabei nahm ich nicht einmal Rücksicht darauf, ob dies im Beisein von Frauen und Kinder geschah. Ich weiß, dass ich nicht das Recht dazu hatte, meine Wut an unschuldigen Menschen auszulassen, nur war ich damals so in meinem Hass gefangen, dass ich für nichts anderes zugänglich war.“
Rachel, die darauf wartete, dass Duncan noch etwas sagen würde, sah sich enttäsucht. Um ihn von seinen düsteren Gedanken abzubringen, beschloss sie, dass zuletzt Gehörte zu ignorieren und fragte: „Du warst bei dem Aufstand von 1745/46 dabei? Ich dachte immer, dass du, nachdem du gezwungen warst Glenfinnan im Jahr 1622 zu verlassen, nicht wieder nach Schottland zurückgekehrt bist. Warst du dabei als der Prinz hier in Glenfinnan seine Standarte setzte?“
„Nein. Als der Prinz in Glenfinnan landete, war ich nicht dabei.“ antwortete Duncan.
„Du solltest wissen, dass ich ihn von meinem Aufenthalt am französischen Hof her kannte. Im Frühjahr des Jahres 1745 durchreiste ich das schottische Hochland mit der Absicht die Chieftains der hiesigen Clans für die Sache von Charles Edward Stuart zu gewinnen…“
Ende Teil 2
© Norina Becker (Januar 2008)

|