Rioghachd nan Eilean - Königreich des Lichts
  9. Schwere Entscheidungen
 

9. Schwere Entscheidungen


„Warum hocken wir eigentlich hier in Edinburgh, wenn der Weg nach London frei ist?“ fragte Kyle, der zusammen mit Duncan den Innenhof von Holyrood betreten hatte. Beide hatten sich – zum Schutz vor der abendlichen Kälte – Umhänge aus Schurwolle umgelegt, die am Kragen und den Ärmeln mit Kaninchenfell abgesetzt waren.
Fakt war jedenfalls, dass Duncan seinem Freund dieses Mal beipflichteten musste. Auch er war der Meinung, dass man langsam wieder zur Tat schreiten sollte.
Sie waren jetzt seit mehr als zwei Wochen an Charles neu gegründetem Hof, welcher von seiner Pracht her dem englischen und auch dem französischen Hofe in nichts nichts nach stand. Es gab Morgenempfänge, Soireen und Versammlungen, ebenso wie es auch an den den anderen großen Höfen Europas üblich war. Und dennoch hatte der Prinz die Männer nicht vergessen, die mit ihm geritten und von Anfang an an seiner Seite ausgeharrt hatten. Und so teilte er die Zeit zwischen Holyrood und dem Lager in Duddington auf. Aber auch dort waren viele der Meinung, dass die Zeit des Müßigangs vorüber sei. Die Männer wollten endlich wieder kämpfen.

„Ich glaube nicht, dass wir noch länger hier in Edinburgh verweilen sollten.“ bemerkte Duncan. „Der Sieg bei Prestonpans hat uns weitere Unterstützung beschert. Wir sollten uns wirklich langsamen darüber klar werden, wie es weitergehen soll.“
„Jeden Tag kommt es zu einer anderen Versammlung“ murrte Kyle. „Wenn es ein Problem gibt, dann nur zwischen O'Sullivan und Murray. Wenn der eine Hü sagt, sagte der andere Hott.“
„Das weiß ich auch, Kyle. Und es macht mir große Sorgen. Ich will ehrlich zu dir sein. Mich beunruhigt die Vorgehensweise von O'Sullivan. Ich persönlich würde einen Befehlshaber wie Murray vorziehen, der bei weitem besonnener ist und nicht so viel Interesse an kleinen Siegen zeigt. Unser Augenmerk sollte mehr auf den Gesamtsieg ausgerichtet sein.“
„Wenn nicht bald etwas unternommen wird, werden wir weder das Eine noch das Andere haben. Dieses Getue am Hofe hier ist doch die reinste Zeitverschwendung, Duncan.“
Mac lächelte. „Du vermisst Glenmhor und deine Frau Gillian. Gib es zu.“
“Aye. Schon fast zwei Monaten habe ich sie nicht mehr gesehen. Ich mache mir sorgen um sie. Auch wegen des Kindes.“
„Es ist ganz normal, dass man sich um diejenigen Sorgen macht, die man liebt.“
„Wenn wir erst in Richtung England unterwegs sind, könnte es ewig dauern, bis wir unser Heim und unsere Familien wiedersehen.“ Da er nicht dem Trübsinn verfallen wollte, klopfte Kyle Duncan auf die Schulter
„Jedenfalls hat du hier am Hof die Möglichkeit dich auf das Beste zu amüsieren. Schon seit Tagen frage ich mich, warum du dir kein Mädchen suchst, denn an Angeboten würde es dir meiner Meinung nach nicht mangeln. Du hast in den vergangenen Wochen mit deiner zur Schau gestellten Gleichgültigkeit sicher mehr als ein Dutzend Herzen gebrochen.“
„Ich habe anderes im Sinn.“ antwortete Duncan kurz und knapp.
Er atmete tief durch und schüttelte energisch alle Gedanken ab, die ihn an eine zierliche rotblonde Frau erinnerten. Ein amouröses Abenteuer hier am Hofe reizte ihn in keiner Weise. Was er jetzt dringend brauchte, war ein Drink und die Gesellschaft eines guten Freundes.
Um Kyle vom Thema abzulenken, fragte er: „Was hältst du von einer guten Flasche Wein und einem Würfelspiel?“
Kyle nickte daraufhin zustimmend und beide verschwanden im angrenzenden Gebäude.

******

Der Marsch begann am 1. November. Eine Vielzahl der Männer, die unter dem Kommando von Lord George Murray standen, hatten den Prinzen gedrängt, den Feldzug zu beenden und den großen Vorteil zu nutzen, den ihnen der Sieg bei Prestonpans eingebracht hatte. Doch weder durch gutes Zureden seiner Berater noch durch den Hinweis auf gewisse Vorteile, die ihnen die Einnahme von Edinburgh verschafft hatte, konnte Charles Edward Stuart dazu bewegt werden, die ganze Sache – zumindest vorerst – abzublasen. Nachdem aus Frankreich lediglich Geldmittel und Versorgungsgüter eingetroffen waren, aber wieder keine militärische Unterstützung, beschloss der Prinz, dass es Zeit war, seine Armee in Bewegung zu setzen. Das Heer zählte inzwischen etwa 4.000 Mann. Es gab etwas 300 Berittene innerhalb dieser Streitmacht. Wie auch schon bei dem Sieg in Prestonpans entschied sich der Prinz Nägel mit Köpfen zu machen und somit einmal mehr dafür, dass Kühnheit wahrscheinlich die beste Strategie sei. Er hatte eine solch hohe Meinung von seinen Truppen, dass er gar nicht auf die Idee kam, dass diese möglicherweise geschlagen werden könnten. Diese Meinung teilten ausnahmsweise auch einmal die Engländer mit ihm.
Noch vor wenigen Monaten hatten sich alle über die ehrgeizigen Bemühungen des bunt zusammengewürfelten Haufens, der größtenteils aus Hochlandschotten bestand, lustig gemacht. Inzwischen war man jedoch einsichtiger geworden und vertrat eine andere Ansicht, denn die Siege von Charles' Armee hatten die englische Regierung mehr beunruhigt, als sie zugeben wollte. Momentan war man gerade dabei zusätzliche Truppen aus Flandern abzuziehen und sie zur Unterstützung von Marshall Wade nach Newcastle zu senden.
Trotz allem traf die Armee des Prinzen auf dem Weg nach Lancaster auf überraschend wenig Widerstand. Unter dem Kommando von Lord Murray wurde auch diese Stadt rasend schnell von den Jakobiten eingenommen. Getrübt wurde die Freude über den Sieg allerdings durch die geringe Anzahl englischer Jakobiten, die bereit waren, sich den Rebellen und deren Sache anzuschließen.

*******

Duncan saß mit seinem Freund Ash, der jetzt zu ihnen gestoßen war, an einem knisternden Lagerfeuer. Da die Nächte schon sehr kalt waren, hatten sich beide in Decken gehüllt und versuchten sich durch den Genuss von Whisky zu wärmen.
„Ich verstehe nicht Mac, warum ihr Wades Truppen nicht angegriffen habt. Es wäre ein Leichtes gewesen, mit ihnen fertig zu werden. Wer weiß, was nun wird.“ sagte Ash. „Jetzt haben sie Cumberland zur Verstärkung herbeigerufen, und der nähert sich mit großen Schritten. Wie große ist Charles’ Armee eigentlich? Mehr als vier- oder fünftausend Leute sind es doch gewiss nicht?“
„Das ist schon ziemlich hochgegriffen.“ meinte Duncan und starrte in die lodernden Flammen des Feuers.
„Charles wird durch seine beiden Generäle Murray und O’Sullivan in zwei ganz verschiedene Richtungen gedrängt. Es gibt endlose Debatten um jede noch so kleine Entscheidung. Weißt du was ich glaube? Unser Elan ist uns in Edinburgh abhanden gekommen.“
„Und trotzdem hast du dich entschlossen zu bleiben?“
„Ich bin einer von Charles Beratern, und außerdem habe ich einen Eid abgelegt, den ich, was auch immer kommen möge, gedenke einzuhalten.“
Für einen Augenblick verharrten beide in Schweigen und lauschten den Geräuschen der Nacht, dann begann Ash erneut zu sprechen.
„Weißt du eigentlich, dass einige der Schotten dabei sind, sich abzusetzen?“
„Ja. Das weiß ich.“ sagte Duncan. „Es ist traurig, aber ich kann die Männer verstehen und ihre Handlungsweise nachvollziehen. Sie wollen wieder zurück in ihre Heimat, in die Highlands mit den Bergen und Tälern. Die Gegend hier ist nichts für sie. Zudem haben viele Sehnsucht nach ihren Frauen und Kindern. Gerade heute haben alle Clanchiefs über diese Problematik diskutiert und beraten. Man ist zu der Auffassung gekommen, zu versuchen, die Männer doch noch zum Bleiben zu bewegen.“
Duncan fragte sich insgeheim, ob es überhaupt jemandem so richtig zu Bewusstsein gelangt war, dass die Siege dieser zahlenmäßig weit unterlegenen und schlecht ausgerüsteten Armee ausschließlich der Tatsache zu verdanken waren, dass die Männer nicht auf einen Befehl hin handelten, sondern aus eigenem Antrieb und mit ihrem ganzen Herzblut kämpften. Wenn sie nicht mehr mit ihrem Herzen dabei waren, würde auch die Sache der Jakobiten verloren sein.
Bevor er weiterredete, trank Duncan einen Schluck Whisky.
„Wenn alles gut geht, erreichen wir am morgigen Tage Derby. Wenn es dann noch gelingen sollte, uns schnell nach London abzusetzen und dort ebenfalls einen raschen und schnellen Sieg einzufahren, wäre es noch immer möglich unseren König auf den Thron zu setzen. Wir sind noch nicht geschlagen, Ash. Deinen Neuigkeiten nach zu schließen, herrscht in der Stadt die absolute Panik. Und wenn es stimmt, was du sagst, dann bereitet sich der englische König für seine Abreise nach Hannover vor.“
„In Deutschland möge er dann auch bleiben.“ murmelte Ash. „Wenn wir Glück haben und Gott mit uns ist, werden all die Männer die mit dem Prinzen ziehen im neuen Jahr wieder bei ihren Familien sein.“
Erst einmal einer Antwort enthoben, nahm Duncan einen weiteren Schluck Whisky. Er wusste genau, dass mehr vonnöten war, als nur Glück, wenn diese Rebellion noch ein glorreiches Ende finden sollte.

******

In der Stadt Derby, die sich etwa 200 Kilometer von London entfernt, befand, hielt Charles mit seinen beiden Generälen und sämtlichen Beratern einen Kriegsrat ab.
Draußen fielen große weiße Flocken vom Himmel und es war bitterkalt. Ein eisiger Wind zog durch das Lager und brachte Menschen und Tiere zum Erzittern.
„Meine Herren“, sagte Charles „ich ersuche Euch um Rat und Mithilfe.“
Charles blickte in die Runde seiner Getreuen und schaute jeden einzelnen der Anwesenden kurz an.
„Wir benötigen Entschlossenheit und Einigkeit. Wie sie alle hier wissen, besteht die Gefahr, dass die Regierungstruppen uns angreifen könnten. Zu allem Überfluss ist die Stimmung unter den Männer nicht die beste. Ein schneller und harter Schlag gegen Englands Hauptstadt erscheint mir noch als die beste Strategie. Dies wäre sicher auch im Sinne unserer Soldaten, denn noch ist Erinnerung an die von uns errungenen Siege in ihrem Gedächtnis frisch verankert.“
„Eure Hoheit. Gestattet mir bitte zu sprechen.“ sagte George Murray. „Ich muss an dieser Stelle unmissverständlich zu großer Vorsicht raten. Eure Armee ist schlecht ausgerüstet und den englischen Truppen zahlenmäßig weit unterlegen. Es wäre meines Dafürhaltens sinnvoller, wenn wir uns nach Schottland zurückziehen und die Wintermonate dazu nutzen, neue Pläne zu schmieden und für das nächste Jahr einen neuen Feldzug zu planen. Vielleicht könnten wir dadurch auch zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen, und jene Männer zurückgewinnen, die Euch bereits verlassen haben. Außerdem könnten wir unsere Vorräte auffrischen.“
„Dies halte ich für keine gute Idee, Lord Murray.“ entgegnete der Prinz. „Es erscheint mir eher als ein Rat der Verzweiflung und des Kleinbeigebens. Wenn wir Euren Vorschlag des Zurückweichens aufgreifen, sehe ich nur Ruin und Vernichtung auf uns zukommen.“
„Mit Verlaub, Eure Hoheit. Ich sagte ‚zurückziehen’ und nicht ‚zurückweichen.“ berichtigte Lord George den Prinzen. „Zwischen den beiden Worten gibt es einen sehr großen Unterschied.“
Auf diese Aussage hin erhielt er Zustimmung von fast allen Anwesenden.
Charles hörte sich daraufhin auch die Meinung der anderen an und musste letztlich feststellen, dass sich der überwiegende Teil in ähnlicher Weise wie Murray äußerte. Fast alle seiner Berater rieten ihm zu Vorsicht und Geduld. Nur der Ire O’Sullivan war für einen sofortigen Angriff und versuchte mit aller Macht den Prinzen von seiner Meinung zu überzeugen.
Plötzlich und ohne Vorwarnung sprang Charles Edward Stuart von seinem Stuhl auf und sprach Duncan an. „Was meint Ihr dazu, mein Freund?“

Duncan wusste aus eigener Erfahrung, dass der von Murray eingebrachte Vorschlag aus militärischer Sicht mehr als vernünftig war, doch alles in ihm sträubte sich dagegen. Er musste sich gerade an das Gespräch mit Ash vom gestrigen Abend erinnern und auch die Überlegungen, die sie beide ausgetauscht hatten. Und er kam zu dem Schluss, dass er dieses – und wohl auch das einzige Mal – die Betrachtungsweise des Iren teilte. Sollten sie sich jetzt zurückziehen, würden die Seele und der Geist ihrer Rebellion verloren gehen, und all das, für was sie so verzweifelt gekämpft hatten, wäre umsonst gewesen. Er fasste sich daher ein Herz und sagte laut: „Bei allem Respekt, Hoheit. Wenn die Entscheidungsgewalt in meinen Händen ruhen würde, dann würde ich morgen bei Tagesanbruch die Truppen mobilisieren, die Gunst der Stunde nutzen und nach London marschieren.“

„Eure Hoheit.“ warf Lochiel ein. „Unserer Herzens sagen uns , dass wir kämpfen sollen. Jedoch sollte man im Krieg auch auf seinen Verstand hören. Wenn wir zum jetzigen Zeitpunkt nach London reiten , könnten die Verluste unermesslich hoch sein...“
„...oder der Triumph unbeschreiblich.“ unterbrach James O'Sullivan Lochiels Ausführungen. „Seid ihr alle Feiglinge, die beim ersten Anzeichen einer Gefahr ein Versteck suchen? Für mich sind 'zurückziehen' und 'zurückweichen' ein und dasselbe.“
O'Sullivan blickte Murray und Lochiel grimmig an. „Ein Rückzug bleibt ein Rückzug und nichts anderes.“
In Richtung des Prinzen gewandt, erklärte George Murray ganz ruhig: „Es ist nur mein Wunsch, Euch und unserer Sache so gut wie möglich zu dienen. Ihr seid ein Prinz, Sire, ich nur ein einfacher Soldat. Und daher muss ich auch als ein solcher sprechen und handeln.“
Die Diskussion wurde fast den ganzen Vormittag fortgesetzt. Aber schon lange, bevor sie beendet war, konnte Duncan das Ergebnis vorausahnen. Charles, der nie willensstark genug gewesen war, wenn es zu Meinungsverschiedenheiten innerhalb seines Führungsstabes gekommen war, gab letztlich klein bei und hörte auf Murrays Rat.
So wurde am 6. Dezember 1745 der Beschluss gefasst, den Rückzug nach Schottland anzutreten.


© Norina Becker (Juni 2009)
 
 
 
 
   
 
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