Kapitel 4: Überlebenswille
David stand auf dem Deck seiner Yacht. Um ihn herum war Wasser, soweit das Auge reichte nur Wasser und die warmen Sonnenstrahlen warfen ein traumhaftes Glitzern auf die Oberfläche. Es war Sommer. Er drehte sich, schaute sich um. Vorne auf dem Deck lag Alexa in der Sonne. Sie sah zufrieden, nein glücklich aus. Er lächelte und ging zu ihr. Sie stand auf, als sie ihn bemerkte und lächelte sanft zurück. Sie sah wunderschön aus. David Herz pochte. Sie stand nun direkt vor ihm, trug nur einen Bikini und David berührte sie, streichelte ihr über die Wange. Ihre Haut war warm und wunderschön und zart. Dann senkte er seinen Kopf leicht und küsste Alexa, als ob es eine Lebensnotwendigkeit gewesen wäre, als ob sein Herz ohne den Kuss nicht schlagen würde. Er nahm sie feste in die Arme. Sie verschmolzen. Es war das schönste Gefühl auf Erden.
Aber es war nicht real. Die Yacht war noch nie zu Wasser gelassen worden. Und plötzlich war da dieser Gedanke. David wusste, dass er tot war. Aber alleine die Tatsache, dass er diesen Gedanken hatte bedeutete, dass er nicht tot war. Er lebte. Und schlagartig kam ihm die einzige wichtige Frage in den Sinn. „Was ist mit Alexa?“ Sein Herz fing an heftiger zu pochen.
Dann hörte er Stimmen. Es waren eindeutig mehrere und er vernahm sie ganz leise aber deutlich. Er hört einzelne Worte, konnte sie aber nicht verstehen, als würde er die Sprache nicht verstehen. Aber er kannte die Sprache. Die Stimmen kamen aus allen Richtungen über das Wasser und wurden immer deutlicher. Alexa schien die Stimmen nicht zu hören und er wusste, dass er gehen musste, dass er Alexa hier auf der Yacht zurücklassen musste. Langsam löste er sich von ihr. Das hier war ein Traum, ein Traum den er gerne bis in die Unendlichkeit weitergeträumt hätte. Es war ein Paradies, es war sein Paradies und es löste sich, wie ihm nun bewusst wurde, langsam auf. Der Himmel verschwand, das Wasser verschwand. Auch die Yacht löste sich auf. Jetzt stand er mit Alexa in einem nichtbeschreibbarem Nirgendwo, aber sie war nicht irritiert. Sie lächelte ihn einfach weiter an und es viel David schwer sich von ihrem glühenden Blick zu lösen, den Blick, den er so sehr an ihr geliebt hatte. Es schloss die Augen.
Leben kehrte in seinen Körper zurück. Bei dem Versuch die Augen wieder zu öffnen tat er sich schwer. Schließlich, mit viel Anstrengung gelang es ihm. Er vernahm seine Umgebung nur schemenhaft, aber er konnte nun die Richtung, aus der die Stimmen kamen, genauer zuordnen. Sie kamen von vorne.
David spürte seine Arme, sie schmerzten. Er blickte auf und als das verschwommene Etwas Gestalt annahm, sah er den Grund für seine Schmerzen. Seine Hände waren gefesselt und er war daran aufgehangent worden. Er merkte, dass seine Zehenspitzen den Boden nur ganz knapp berührten. Er konnte sich kaum bewegen. Die Füße waren ebenfalls gefesselt. Sie waren in Ketten gelegt.
„Da, er kommt zu sich.“ hörte er jemanden sagen und versuchte seinen Blick zu fokussieren. David erkannte aber niemanden.
Schließlich näherte sich eine der Personen. Ein anderer Sprach von weiter hinten:
„Schön, dass du wieder da bist, David. Hast dir mal wieder ordentlich Zeit gelassen.“ David erkannte diese Stimme sofort. Es war Quint. Augenblicklich schoss Adrenalin durch Davids Körper. Unbändiger Hass stieg in ihm auf. Die Lagerhalle, Alexa, Alexas Familie. Alles fiel ihm wieder ein. Jetzt merkte er auch, das seine Wunden verheilt waren und er versuchte sich zu befreien. Aber seine Bewegungen, so heftig sie auch waren, halfen nichts. Schließlich erreichte ihn die Person, die auf ihn zugetreten war. Die Person war ein Mann und er hatte zwei Stangen in der Hand, die vorne jeweils in einer kleinen Platte endeten. Daran angeschlossen waren Kabel, die zu Davids linker Seite wegführten. Er konnte nicht erkennen wohin genau, aber das war auch nicht nötig. Er wusste was jetzt kommen würde. Aber er würde nicht nachgeben, er würde nicht reden, nichts sagen. Kein Wort.
Der Mann vor ihm, der auf den Namen Nelson hörte, wie David von weiter hinten erfuhr, drehte den Kopf und die Schulter so weite es ging nach hinten und sah zu Quint.
„Lincoln 399, David. Erzähl uns alles über Lincoln 399.“ Quint wartete und David dachte, dass Quint lange auf eine Antwort warten kann. Schließlich nickte Quint und Nelson drehte sich wieder zu David um. Dann führte er die Stangen, die offensichtlich lange Griffe waren zu Davids nacktem Oberkörper und die Platten berührten seine Brust. Davids Körper zuckte gewaltig und er schrie auf. Strom schoss durch seinen Körper, durch jeden Muskel. David verließen jegliche Gedanken. Dies war nicht das Gefühl, das er von dem Quickening kannte. Er merkte deutlich, das hier Strom als Waffe gegen ihn eingesetzt wurde. Eine Muskelkontrolle war unmöglich geworden und er fühlte sich noch hilfloser als zuvor. Nach zehn Sekunden entfernte Nelson die Platten, aber David hatte das Gefühl dem Strom Minuten ausgesetzt gewesen zu sein. Er hyperventilierte.
Nelson sah erneut zu Quint.
„Noch mal.“ sagte dieser kühl und David zuckte erneut, als wieder Strom durch seinen Körper schloss. Dann verschwamm die Umgebung und er entglitt in das Reich der Träume.
Als er wieder zu sich kam lag er auf einem harten Boden. Er merkte, dass er nicht mehr gefesselt war und sah sich um. Er lag in einem ca. zwei mal zwei Meter kleinen Raum, Licht fiel nur spärlich durch ein kleines Oberlicht ein. Es war Tag, von draußen kam Licht. Zumindest wenn hinter der Mauer „draußen“ war.
David wusste nicht wie viel Zeit vergangen war oder wo man ihn hingebracht hatte. Es tat gut, dass er im Augenblick keine Schmerzen hatte. So konnte er sich sammeln. Dann kam auch schon die Erinnerung an Alexa zurück geschossen, wie ein Gummiband, das zwei Leute auseinander gezogen hatte und dessen Ende sein Gegenüber zuerst losgelassen hatte. Die Fragen taten weh. Was ist mit Alexa? Wurde sie rechtzeitig gefunden? Konnte sie Hilfe rufen? David begriff schnell, dass das einzige, was noch schlimmer war, als die Gewissheit das sie tot war, die Ungewissheit war, ob sie nicht doch überlebt haben konnte. Er musste es wissen. Aber wie sollte er es herausfinden? Die Ungewissheit brachte zwar Hoffnung aber die Hoffnung brachte erneut Angst. Davids Gedanken drehten sich im Kreis. Egal was er dachte, es endete immer mit der Ungewissheit. Hatte sich Alexa möglicherweise wirklich retten können. Wenn sie ihr Handy dabei hatte, konnte sie vielleicht Hilfe rufen. Sie hatte bestimmt Matt informiert, wohin er, David aufgebrochen war. Möglicherweise war Matt schon während des Kampfes auf dem Weg zur Lagerhalte am Hafen gewesen. Oder war das alles nur Wunschdenken? David, immer noch auf dem Boden liegend, schloss die Augen. Er wollte wissen was mit Alexa ist. Hatte sie wirklich eine Chance? Er sah Alexas Blick vor seinen Augen, wie sie blutüberströmt auf dem Boden lag, während er an ihr vorbei getragen wurde, wie sie vom Schwert durchbohrt wurde. Es kam ihm vor als sei es erst vor einem kurzen Augenblick gewesen, oder waren schon Monate vergangen? Er hatte einen Kloß im Hals und bitterer Geschmack stieg hoch in seinen Mund.
In einer Ecke zusammengekauert sah er das Licht wandern, das durch das Oberlicht herein schien und auf die Wand gegenüber fiel. Die Zeit schritt voran, aber die Sekunden kamen David wie Stunden vor. Er konnte seine Gedanken nicht von Alexa lösen. Aber er versuchte es, versuchte seine Gedanken auf etwas anderes zu richten. Es brauchte Zeit. Und dann plötzlich ging ihm etwas anderes durch den Kopf. Da war ein Gedanke, an dem er festhalten, mit der sich beschäftigen sollte. Lincoln 399. Er hatte davon gehört, oder gelesen. Es kam ihm bekannt vor, aber wusste nicht was es war. Er konzentrierte sich krampfhaft, allein schon, weil sich mit einem Problem auseinanderzusetzen besser war, als ständig an Alexa denken zu müssen und was mit ihr möglicherweise oder wahrscheinlich passiert war. Lincoln 399. Das war auf jeden Fall noch aus seiner Zeit als Antiterroragent. Es hatte also nichts mit Unsterblichen zu tun. Unsterbliche. David fragte sich, wie er nur so blind sein konnte. Nur weil er unsterblich war, hieß das nicht, dass alle Probleme auf die er stoßen würde, etwas damit zu tun hatten. Quint war nicht unsterblich und die Tatsache, dass er das Gegenteil angenommen hatte, hatte die Situation erst so schwierig gemacht. Er war leichtsinnig.
David merkte, dass er vom Thema abkam und richtete seine Gedanken wieder auf Lincoln 399. Was war das?
Schritte waren zu hören, die sich dem Raum näherten. David hörte, wie jemand den Schlüssel im Schloss der Tür umdrehte und die Tür schwang auf. David stand auf. Mehrer Gewehre zielten in seine Richtung.
„Wenn du Ärger machst, schießen die.“ sagte der Mann im Vordergrund und zeigte mit seinem Daumen über seine Schulter zu den bewaffneten Männern. Dann ging er mit den Ketten, die für Davids Hände und Füße gedacht waren, auf ihn zu. Dieser reagierte sofort. Er machte einen Satz vorwärts, um den Mann als Schild benutzen zu können. Doch er war nicht schnell genug. Ein Schuss peitschte durch Luft und traf David mitten in die Brust. Er taumelte zurück. Im gleichen Augenblick zog der Mann, der die Ketten brachte und diese nun fallen lies ein Messer und stach zu. Das Messer steckte ebenfalls in Davids Brust und er ging zu Boden. Um ihn herum wurde alles schwarz.
Eiskaltes Wasser klatschte in sein Gesicht und für einen kurzen Augenblick hatte David das Gefühl zu ertrinken. Aber er wurde nicht unter Wasser gedrückt. Er öffnete seine Augen und sah Nelson gerade einen großen Eimer auf den Boden stellen.
„Willkommen zurück.“ sagte Quint, der nun hinter Nelson hervortrat.
„So wird das hier immer laufen, wenn du nicht kooperierst. Hast du mich verstanden?“
David sah Quint an und ihm vielen unendlich viele Möglichkeiten ein, ihn zu beleidigen, aber er hielt an seinem Vorhaben fest, kein Wort zu sagen. Nelson drehte sich um und hatte die verkabelten Stangen in der Hand. David machte sich gefasst, auf das was jetzt kommen würde und konzentrierte sich, um gegen die gleich eintretenden Schmerzen ankämpfen zu können.
Strom schoss durch seinen Körper und erneut reagierten seine Muskeln und zuckten unkontrolliert. Für David verging die Prozedur in Zeitlupe und schien kein Ende zu nehmen.
„Lincoln 399.“ schrie Quint, aber David hörte ihn kaum.
Nelson hob erneut die Stangen, aber Quint hob ebenfalls sein Hand und gebot ihm aufzuhören. Er hob ein Metallstange vom Boden auf und drehte sie begutachtend in seiner Hand. Dann schritt er zu dem Tisch zu seiner linken und spannte die Stange in einem Schraubstock ein. Unter die Spitze der Stange, die über den Tisch ragte stellte er einen Gasbrenner und entzündete die Flamme. Die Spitze wurde erhitzt.
„Weißt du, David“ begann Quint, „du kannst nicht sterben. Das bedeutet für mich, dass ich dich früher oder später zum reden bringen kann. Es gibt Menschen die sich mit aller Kraft dagegen wären und einigen gelingt es. Der Preis ist aber, dass sie aufgrund der zugefügten Verletzungen sterben. Das wird dir nicht passieren, zumindest nicht auf Dauer. Daraus ergibt sich, dass ich mit dir weiter machen kann, immer weiter und du in Schmerzgebiete und eine Dauer der Schmerzen eintauchen kannst, wie sie noch niemand zuvor erlebt hat. Da wollen wir doch mal sehen, wie lange du das aushältst. Vergiss den Spaß mit dem Strom. Das war Spielerei.“ Und mit dem letzten Satz zog Quint die Metallstange mit der nun glühenden Spitze aus dem Schraubstock und hielt sie in der rechten Hand, die er mit einem Handschuh schützte.
David schrie auf, als sich das glühende Metall in seinen Bauch bohrte. Es kam ihm so vor als würde es durch seinen Körper dringen, dabei hatte Quint ihn nur kurz berührt. David roch verbranntes Fleisch und er wusste, dass es seins war.
„Also noch mal. Erzähl mir alles über Lincoln 399.“ sagte Quint ruhig.
David sagte nichts. Den Preis dafür musste er unmittelbar danach bezahlen. Quint drückte die immer noch glühende Metallspitze erneut gegen seinen Bauch. Dieses mal nicht nur für einen Moment. David schrie, verstummte dann aber schlagartig, als er sein Bewusstsein verlor.
„Geben wir ihm einen Moment.“ kommentierte Quint das Geschehen.
Es dauerte etwas bis David wieder zu sich kam. Er spürte Schmerzen, roch verbranntes Fleisch, wollte sterben. Er wollte, dass alles aufhörte.
„Du sagst mit jetzt, was ich wissen will.“ schrie Quint. Aber David blieb stumm, atmete schwer. Er steckte seine ganze Kraft in den Kampf gegen seine Schmerzen. Nur das konnte ihm jetzt helfen. Hass brachte gar nichts und so schloss er seine Augen und ging in sich, als er erneut spürte, wie sich eine unglaubliche Hitze in seinen Körper bohrte. Er biss die Zähne zusammen und verkrampfte. Schrie aber nicht. Der Druck in seiner Bauchgegend lies nach, aber nicht der Schmerz. Dann kam ein weiterer hinzu, diesmal an seinem Hals und David wünschte sich für einem Moment, dass der Schmerz das Gefühl war, wie sein Kopf abgetrennt wurde. In diesem Moment gab es für ihn nichts besseres als eine endgültige Erlösung. Aber der Wunsch verflog genauso plötzlich, wie er gekommen war, als er Alexa vor seinem inneren Auge sah. Der Druck lies erneut nach, aber es folgte kein neuer Schmerz. Er öffnete wieder seine Augen. Vor ihm stand Quint, der nun das Schwert in der Hand hielt, mit dem er gestern gegen Alexa gekämpft hatte. Gestern? David dachte nach. Er konnte nicht sagen, ob es wirklich gestern war, oder vorgestern, oder vor einer Woche oder einem Monat. Dann wurde er aus seinen Gedanken gerissen, schrie erneut auf. Das Schwert durchbohrte seinen Körper. Und wieder wurde alles schwarz.
Es war kalt. Alles war kalt. Er spürte den harten Boden auf dem er lag. Langsam drehte er sich auf den Rücken und öffnete die Augen. Es war dunkel. Er war in seiner Zelle. Dieser komplett verschlossene Raum mit dem kleinen Oberlicht, durch das jetzt kein Licht fiel. David fasste sich ins Gesicht und den kurzen Bart den er ertastete verriet ihm, dass er schon einige Tage hier war. Jetzt hatte er wieder eine grobe Vorstellung von Zeit zumindest im Augenblick. Auf jeden Fall wusste er, dass er noch nicht Monate hier war, auch wenn es ihm so vorkam. Er taste seinen Hals ab, dann seinen Bauch. Die Wunden waren geheilt, der körperliche Schmerz war verschwunden. Es breitete sich Leere in seinem Kopf aus und er wollte sofort wieder einschlafen. Er war noch immer schwach. Hatte bisher noch nichts zu essen bekommen. Nur eine Flasche Wasser stand in seiner Zelle, seit dem ersten Tag. Sie war mittlerweile leer und er hatte Durst. Aber das war wohl eine weitere Maßnahme ihn zum Reden zu bewegen. Schließlich konnte er nicht verhungern oder verdursten.
Die Tage vergingen mit immer gleicher Prozedur. Er wurde aus seiner Zelle geholt und in einen anderen großen Raum gebracht. Dort lies sich Quint immer neue Grausamkeiten einfallen um David zu brechen. Sie endeten jedes Mal damit, das David starb, manchmal auch zwei oder drei mal am Tag. Als seine Sterbrate pro Tag höher wurde, bekam er wieder Nahrung, um bei Kräften zu bleiben.
Nach einigen Wochen versuchte David sich nicht mehr zu wehren. Es kostete ihn unnötig Kraft. Aus eigener Kraft entkommen konnte er nicht, soviel stand fest. Aber wer wusste schon wann der richtige Augenblick kommen würde. Da er nun immer zum Verhörraum, wie Quint ihn nannte, geführt wurde, und er den Weg selbstständig ging und nicht erst in dem Raum erwachte, nahm er im Laufe der Zeit immer mehr von seiner Umgebung und den Räumlichkeiten war. Jedes Mal wenn er wieder geholt wurde, brachte man ihn von seiner Zelle aus links den Gang entlang, etwa 10 Meter. Von dort aus führten zwei Korridore weg. Einer nach links, der andere nach rechts. David wurde immer den linken Korridor entlang gebracht. Dieser hatte mehrere Türen zu beiden Seiten und endete in einer Halle, die mit verschiedenen Kisten und Containern voll gestellt war. Auf der rechten Seite wurde er durch einen Zugang in eine kleinere Halle gebracht, die zusätzlich eine Art Kommunikationsstation in einem separaten, bunkerähnlichen Raum beinhaltete, wie er beobachtete. Die kleinere Halle war der Verhörraum.
In den folgenden Wochen prägte sich David, den Weg und den Inhalt der zusätzlichen Räume, sofern er beim Vorbeigehen Einblick hatte, ein.
Er stellte außerdem fest, dass es weitere Zellen neben seiner gab. Allerdings schienen alle verlassen zu sein. Er war der einzige Gefangene.
Die Zeit verging und bald hatte er sein Zeitgefühl endgültig verloren. Er konnte nicht mehr sagen, wie viele Wochen er bereits hier war. Er war erstaunt, dass er überhaupt noch hier war, da er bisher kein einziges Wort gesprochen hatte. Quint versuchte weiterhin Informationen über Lincoln 399 zu erhalten. Offensichtlich waren ihm Informationen darüber soviel wert, dass er über einen sehr langen Zeitraum an jeder Möglichkeit, etwas zu erfahren, festhielt. Und ganz offenbar, war er die einzige Person die etwas darüber wusste oder zumindest wissen sollte.
David fuhr sich mit seiner Hand durch seinen Bart und seine deutlich längeren Haare. Mittlerweile waren auch sie keine Indikatoren mehr dafür, wie lange er bereits hier war.
In Gedanken versunken, lag er auf dem Boden seiner Zelle und versuchte immer noch Krampfhaft etwas über Lincoln 399 aus seinem Gedächtnis auszugraben. Aber er tat sich nach wie vor äußert schwer. Wo hatte er nur davon gehört? Es war irgendwann während seiner Arbeit bei der ATU. Es wusste, dass es keine Operation, kein Einsatz-Code war, deren Namen waren anders aufgebaut. Aber irgendwann war er dem Begriff Lincoln 399 über den Weg gelaufen.
David versuchte sich zu entspannen und ging in Gedanken die Einsätze ab, die er in seinen Jahren bei der ATU durchgeführt hatte. Schließlich erinnerte er sich an ein Ereignis im Jahr 1998. Er hielt inne und öffnete die Augen weit. Er starrte in die Dunkelheit und seine Umgebung, die dunklen Wände zerfielen in tausend Stücke und formten anschließend in einer fließenden Bewegung in eine völlig andere, neue Umgebung. Vor ihm entstand großes Büro.
Mai 1998 ATU Los Angeles, USA
David schaute auf seine Uhr. Es war 6.30 Uhr morgens, als er durch die Einsatzzentrale der ATU schritt. Es war der Hauptraum, ähnlich einem Großraumbüro, verteilt waren dort einzelne Schreibtische, größten Teils mit vernetzten Computern ausgestattet. Diese waren natürlich bei weitem nicht so modern wie ein handelsüblicher PC im Jahre 2006, aber 1998 war die ATU mit diesen Geräten eine der am modernsten ausgestatteten Behörden. Für das Equipment hatte man stark kämpfen müssen, da die Terrorgefahr des Landes zum damaligen Zeitpunkt zwar stieg, aber noch überschaubar war. Die Schwerpunkte der Verbrechensbekämpfung lagen woanders.
David durchquerte den Raum und verlies ihn an der anderen Seite, um sein Büro zu betreten, welches an die Einsatzzentrale grenzte. Er nahm seine schusssichere Weste ab, und lies sich in seinen Schreibtischstuhl fallen.
Es klopfte und die gerade erst von David geschlossene Tür öffnete sich. Ein Mann Mitte 20 betrat das Büro. Es war Matt Bernard.
„Entschuldige David, hast du schon mit dem Einsatzbericht angefangen?“
„Hi Matt, nein ich wollte mich gerade dran setzen. Warum?“
„Michaels macht Druck.“
Lee Michaels, Ende 40, war der amtierende Direktor der Anti-Terroreinheit und mit David selten einer Meinung. Entsprechend angespannt war ihr Verhältnis.
„Er will wissen was passiert ist.“ ergänzte Matt.
„Was passiert ist?“ fragte David leicht säuerlich. „Die Polizei hat es verpatzt. Die haben eingegriffen ohne auf uns zu warten. Die hatten strikte Befehle und haben sich nicht daran gehalten. Das ist passiert.“
„Schon gut David, köpfe nicht den Überbringer der Nachricht.“
„Entschuldige, Matt. Tut mir Leid, ich…es war eine anstrengende Nacht und…“Davids Satz wurde von dem Klingeln seines Telefons unterbrochen.
„Das ist extern. Entschuldigst du mich bitte einen Augenblick, Matt. Ich kümmere mich gleich um den Bericht.“
Matt verließ das Büro.
„Fox“, meldete sich David, als er den Hörer abnahm.
„Mr. Fox, ich muss sie schnellstmöglich sehen, persönlich.“ meldete sich die Person am anderen Ende der Leitung nervös. „Mein Name ist Sean Gent. Ich bin Kongressabgeordneter.“
„Worum geht es? Warum ich?“ fragte David, der die Bitte des Mannes nicht einzuordnen wusste.
„Das kann ich ihnen am Telefon nicht erklären. Können Sie zur Conllin Str. 66E kommen? Es geht um Leben und Tod, ich muss meine Familie wegbringen. Warten sie bei der Kreuzung, die sich dort befindet. In 30 Minuten. Seien sie pünktlich, ich kann nicht auf sie warten.“ sagte Sean Gent merklich nervös und er schien nun zu flüstern, so als ob er versuchte zu verhindern, dass fremde Ohren mithörten.
„In Ordnung. Ich mache mich auf den Weg.“ sagte David, er mit den wenigen Informationen nicht sonderlich glücklich war. Er legte den Hörer auf. und ging zum Spinnt in der Ecke seines Büros, holte zwei weitere Magazine für seine Dienstwaffe, einer Glock 32 aus dem oberen Fach und steckte sie ein.
Er verlies das Büro und marschierte durch die Einsatzzentrale, als im Matt über den Weg lief.
„Wo willst du hin? Du kannst den Bericht doch noch gar nicht fertig haben.“
„Vergiss den Bericht.“ antworte David knapp. „Ich brauche deine Hilfe. Schnapp die Marshall und ne Einsatzausrüstung.“ Ihr müsst mich begleiten.“
„David, du bist seit 21 Stunden auf den Beinen. Was hast du vor?“ Matt klang besorgt. „Das hört sich wieder so an, als würde hier etwas gegen die Regeln laufen.“
„Stell jetzt keine Fragen. Ich erkläre alles unterwegs.“ Antwortete David knapp.
Matt blieb irritiert stehen.
„Unterwegs? Unterwegs wohin?“
Doch David hatte die Einsatzzentrale bereits verlassen.
Ein paar Minuten später saßen sie zu dritt im Auto auf dem Weg zur Conllin Str.
„David, vielleicht sagst du uns mal was los ist.“ schlug Marshall genervt vor. Marshall Jefferson war ebenfalls Bundesagent im Feldeinsatz und genau wie David für entsprechende Einsätze verantwortlich. Er hatte kurze blonde Haare und man sah ihm deutlich an, dass er sich durch intensives Training fit hielt.
„Kongressabgeordneter Gent hat brisante Information und fürchtet um sein Leben und das seiner Familie. Er will untertauchen, aber mir vorher persönlich Information zukommen lassen.“ erklärte David zügig.
„Was für Informationen?“ fragte Marschall.
„Ich weiß es nicht.“ antwortete David sucht aber Marshalls Blick nicht. „Ich werde am vereinbarten Treffpunkt warten. Ihr haltet euch im Hintergrund. Nur für alle Fälle. Ich hab da ein schlechtes Gefühl.“
„In Ordnung.“ sagte Matt, der den Wagen steuerte.
„Weiß Michaels davon?“ fragte Marschall, dem anzusehen war, das er mit der Situation ganz und gar nicht glücklich war.
„Nein. Ich denke wir schauen erstmal was der Kongressabgeordnete für Informationen hat.“
Die besagte Kreuzung in der Conllin Str. in Downtown Los Angeles erreichten sie rechtzeitig. David verlies den Wagen und warte auf dem Gehweg an einer Ampel, während hinter ihm eine rote Sonne aufging. In der Nacht hatte es etwas geregnet, aber davon war nun nichts mehr zu sehen. Die Straßen waren wieder trocken und die aufgehende Sonne versprach einen schönen Tag.
Die Kreuzung lag an einer kleinen, einen Block großen, Grünzone. Der Rasen war frisch gesprenkelt, trotz den Regens, der in der Nacht unerwartet kam. An den Seiten zu den Bürgersteigen hin standen vereinzelt einige Bäume.
Es vergingen ca. fünf Minuten, dann fuhr eine dunkle Limousine auf der anderen Seite der Kreuzung, kurz vor der Ampel, rechts an die Seite und hielt in Höhe der Grünfläche an. Das musste der Kongressabgeordnete sein. David machte sich auf den Weg und überquerte die Straße. Er hatte die Hälfte der Strecke zurückgelegt, als ein lautes Geräusch an ihm vorbeizischte und ihn in Denkung gehen ließ. Es gab einen lauten Knall, als die Rakete in der Motorraum der Limousine einschlug und explodierte. David drehte sich um und sah einen Pick-Up, der nun wieder Anfuhr, hinter ihm mitten auf der Straße. Dahinter erkannte er Matt, der in seine Richtung lief und ihr Auto, in dem Marshall am Steuer saß und die Verfolgung des Pick-Ups aufnahm.
David richtete seinen Blick wieder nach vorne und lief auf die linke Seite der Limousine zu, als er mehrere Männer über den Rasen zur rechten Seite des Limousine auf diese zustürmen sah. Alle waren mit vollautomatischen Waffen ausgerüstet. Sie eröffneten das Feuer augenblicklich und die Kugeln schlugen in die Limousine ein. Da diese keine getönten Scheiben hatte, konnte David erkennen, dass sich nicht nur der Fahrer und der Kongressabgeordnete, sondern ebenfalls seine Frau und zwei Kinder in dem Wagen befanden. David zog seine Pistole und eröffnete das Feuer über die Motorhaube hinweg, immer noch auf die Limousine zulaufend. Einer der Angreifer ging zu Boden. Dann sah er aus dem Augenwinkel zwei weitere Angreifer von seiner linken Seite auf das Auto zustürmen aber ehe er reagieren konnte, gingen beide zu Boden und David wusste instinktiv, dass ihm Matt den Rücken oder besser gesagt die Seite freigehalten hatte. Immer noch auf den Wagen zulaufend erkannte er die verängstigten Gesichter im hinteren Teil des Autos und ein weiterer Angreifer ging durch eine Kugel aus Davids Waffe zu Boden. Leute in der Umgebung schrien. Eine Autoscheibe ging zu Bruch und Blut spritzte im vorderen Teil der Limousine. David rannte weiter und erreichte die linke Hintertür das Wagens. Er öffnete sie in dem Moment, als ein Angreifer die rechte hintere Tür gerade geöffnet hatte und das Feuer auf die Personen auf der Rückbank eröffnete. Geistesgegenwärtig erschoss er den Angreifer, durchs Auto. Dann richtete er seien Aufmerksamkeit auf die Insassen und er stellte fest, dass nur noch eine Personen schrie und weinte zugleich.
Matt erreichte das Auto, ging in Deckung und eröffnete aus der Deckung das Feuer auf die verbliebenen Gegner.
In der Ferne waren Sirenen zu hören und David hoffte, dass die Polizei ballt eintreffen würde, denn noch immer befanden sich bewaffnete feindliche Männer auf der anderen Seite des Wagens, aber nährten sich diesem nun nicht mehr. Sie suchten nun ebenfalls Deckung und hielten ihre Stellung. David beugte sich in die Limousine und löste den Anschnallgurt der linken Person. Es war ein kleines blondes Mädchen.
Mit den Worten „Ganz ruhig, ich hole dich hier raus.“ zog er sie aus dem Wagen und brachte sie hinter sich in Deckung.
„Bleib hier unten sitzen.“ sagte David zu dem Mädchen, das völlig verängstigt war und sich nicht rührte. David blickte über den Kofferraum und feuerte seine Waffe. Wieder ging einer der Angreifer zu Boden. Kugeln zischten über seinen Kopf hinweg, als er wieder in Deckung ging und ein neues Magazin in seine Waffe schob.
Die Sirenen wurden lauter und mehrere Streifenwagen bogen um die Ecke und waren nun hinter den Angreifern, die nun an zwei Fronten zu kämpfen hatten. Sie eröffneten sofort das Feuer in Richtung der Polizeiautos. Matt nutze den Augenblick, trat aus der Deckung und nährte sich den Feinden. Zu spät bemerkten diese ihren zwei Sekunden andauernden Fehler und Matt erwischte zwei Gegner. David streckte den letzten Angreifer nieder, der sich gerade Matt zugewandt hatte. Dann war der Schusswechsel vorbei und David steckte nun seine Waffe zurück in den Gürtelhalfter, nahm das kleine Mädchen in seine Arme. Er entfernte sich mit ihr von der Limousine zu den Streifenwagen, die nun auch vor ihm aufgetaucht waren. Das Mädchen weinte entsetzlich und klammerte sich an ihm fest. Polizisten liefen zu beiden Seiten an ihnen vorbei und zur Limousine hin. Als David hinter einem Streifenwagen angekommen war, setzte er das Mädchen ab.
„Alles ist gut, du bist in Sicherheit, wie heißt du?“ fragte er mit beruhigender Stimme. Aber das Mädchen weinte noch immer und David nahm sie erneut in den Arm. Nach einem Augenblick sagte sie mit schluchzender Stimme. „Sarah, ich heiße Sarah.“
„Wie alt bist du Sarah?“
„Sechs.“
„Hör zu Sarah, du warst ganz tapfer. Hier bist du in Sicherheit, die beiden Officers hier bleiben bei dir.“ Er zeigte auf die beiden Polizisten, die zu ihnen getreten waren.
„Ich bin Federal Agent David Fox. Bleiben sie bitte bei dem Mädchen.“ Sprach er die Polizisten an.
Zu Sarah gewannt sagte er „Ich muss kurz zu eurem Auto zurück. Ich komme gleich wieder, versprochen.“
Ihre Hand an seiner Jacke löste sich langsam.
„Ich bin gleich wieder da.“
David stand auf und ging zur Limousine, wo Matt bereits warte und telefonierte.
„Das war Marshall.“ sagte Matt, der das Telefonat beendet hatte, als David zu ihm trat.
„Er hat den Pick-Up bekommen. Leider konnte er die beiden Insassen nicht lebend stellen.“
„Wie sieht’s hier aus?“ fragte David.
„Sie sind alle tot.“ antworte Matt. „Da war nichts zu machen.“ David verschaffte sich einen Überblick und sah zwei männliche Leichen vorne und eine Frau sowie ein weiteres Mädchen auf der Rückbank.
„Das wird schwer für die kleine.“ David wandte sich zu den Polizeiautos hinter ihm um.
„Jetzt werden wir nicht erfahren, was der Kongressabgeordnete von dir wollte.“ stellte Matt fest, dessen Stimme eine winzig kleine fragende Komponente enthielt, so als wüsste David genau, was jetzt zu tun sei.
David drehte sich wieder zu Matt. Dabei verharrte er auf dem Straßenschild, dass er erblickte. Conllin Str.
„Warum wollte er sich hier mit uns treffen?“ fragte David laut, obwohl er eigentlich sich selbst die Frage stellte.
Das Straßenschild begann sich aufzulösen. Die Umgebung verschwamm, verschwand schließlich und wurde schwarz. Die totale Schwärze verwandelte sich in eine Dunkelheit, in der man wenigstens Umrisse erkennen konnte.
David sah wieder auf die dunklen Wände in seiner Zelle. Er war mit seinen Gedanken wieder im Hier uns Jetzt. Conllin Str.? Er spielte mit dem Wort.
Konnte das sein? Conllin Str.? Conllin Str.66E? Seine Gedanken wurden nun ganz klar.
Conllin? David vertauschte gedanklich die Buchstaben. Conl-lin. Lin-conl. Lincoln. 66E. Er drehte den Buchstaben und die Zahlen um. Aus 66E wurde 399. Lincoln 399.
